Gentrifizierung ist keine Chance.

Gentrifizierung ist keine Chance.
#tcl_block--article-text

Die Gentrifizierung wird häufig in einem abwertenden Sinne gebraucht. „Gentrifizierte Stadtteile“, wie zum Beispiel Berlins Prenzlauer Berg, rufen bei vielen Beobachtenden sogar ein Gefühl der Verachtung hervor. Doch was genau ist eigentlich die Gentrifizierung? Und handelt es sich dabei um eine Chance für Städte, wie manche Expert*innen behaupten, oder eher um eine Gefahr?
Hier gehen wir dem Thema auf den Grund.

#tcl_block--article-additional-info
Autorin:
Theresa Ramisch, G+L Chefredakteurin

Theresa Ramisch studierte Stadtplanung in Erfurt und München mit Schwerpunkt auf Öffentlichkeits­beteiligung und Kommunikation. Sie ist seit 2016 Redakteurin bei Georg Media und seit Januar 2021 Chefredakteurin der G+L.
#tcl_block--article-text

Was ist eigentlich Gentrifizierung?


Mit der Gentrifizierung ist ein sozioökonomischer Prozess in Städten gemeint. Er bezeichnet die Verdrängung einkommensschwächerer Haushalte durch wohlhabendere Haushalte und ist ein Anzeichen sozialer Ungleichheit. In manchen Fällen ersetzt die Gentrifizierung auch gewerbliche Gebäudenutzung durch profitablere Nutzungsformen wie Wohneigentum oder Kapitalobjekte.

Der Begriff kommt vom englischen Wort „gentrification“ und wurde im Jahr 1964 von der deutsch-englischen Soziologin Ruth Glass geprägt. Sie beschrieb die sozialen Veränderungen im Londoner Arbeiterviertel Islington durch den Zuzug einer neuen Mittelschicht. Dabei bezogt sie sich auf einen Prozess aus dem 18. Jahrhundert, als der niedere Adel, „the landed gentry“, in die Innenstädte zog.

Der Begriff der Gentrifizierung ist seit den 1980er Jahren in Großbritannien und den USA in der Stadtforschung verbreitet. In den USA gibt es zunächst vermehrt um die ökonomische Aufwertung von Grundstücken und Immobilien in ärmeren Quartieren nahe der Innenstadt. Stadtverwaltungen und Politiker*innen begrüßten die Gentrifizierung hier als „Revitalisierung“ der Innenstädte. Kritiker*innen beklagten jedoch, dass die meist afroamerikanischen und hispanischen ursprünglichen Bewohner*innen ärmerer Viertel verdrängt wurden.

Heute meint die Gentrifizierung auch hierzulande einen Teil des Strukturwandels in Städten, der oft in der „Hipsterisierung“ von Stadtvierteln resultiert. Denn nicht nur neue Bewohner*innen, sondern auch neue Angebote in Bezug auf Gewerbe und Gastronomie prägen gentrifizierte Viertel.

#tcl_block--article-text

Wie läuft die Gentrifizierung ab?


Gentrifizierung meint meist zunächst den Anstieg von Mieten und Eigentumswerten, was sich mittelfristig auch auf die Grundstückspreise auswirkt. Davon sind vor allem zentrale, innerstädtische Lagen mit viele Altbauten und mit kleinteiliger Nutzung betroffen.

Der Prozess der Gentrifizierung kann sowohl von innen als auch von außen angestoßen werden. In den meisten Fällen handelt es sich um die „äußere“ Gentrifizierung, bei der viele Bewohner*innen mit mehr finanziellen Mitteln oder zunächst mit höherer Bildung zuziehen. Daraufhin kommt es zu mehreren Phasen der Gentrifizierung, wobei die Nachbarschaft zunächst symbolisch und erst danach ökonomisch an Wert gewinnt:

  • Phase 1: Pioniere ziehen in das Viertel und bringen vor allem kulturelles Kapital mit. Sie haben ihre eigenen Lebensentwürfe, die sie verwirklichen möchten, und finden dafür in sozial und ethnisch vielfältigen Vierteln die richtige Nische. Sie frequentieren Orte wie Cafés, Kneipen und Galerien.
  • Phase 2: Weitere Pioniere wie Paare mit höherem Einkommen ziehen in die Wohngegend, die sich langsam weiterentwickelt. Nun werfen auch Immobilienmakler*innen und Banken ein Auge auf das Viertel. Erste Modernisierungen und Mietsteigerungen finden statt, woraufhin einige alteingesessene Haushalte ausziehen, da sie sich die Miete nicht mehr leisten können.
  • Phase 3: Der Zuzug verstärkt sich und es kommt zu Konflikten mit den Pionieren, die gegen die Gentrifizierung „ihres“ Viertels sind, obwohl sie diese angestoßen haben. Neue Restaurants und Geschäfte öffnen, Gewerbemieten steigen zu und Modernisierung lassen die Wohnmieten anstiegen. Viele ursprüngliche Bewohner*innen sowie Pioniere der ersten Phase verlassen das Viertel, weil sie die Miete nicht aufbringen können oder weil sie den veränderten Charakter des Viertels ablehnen. Wohneigentümer*innen hingegen profitieren von der Wertsteigerung.
  • Phase 4: Das Gebiet gilt nun als „sichere Kapitalanlage“ und viele einkommensstarke Haushalte ziehen nach. Selbst für Mittelklasse-Haushalte wird das Viertel nun eventuell zu teuer.

Übrigens: Im Berliner Prenzlauer Berg gab es bittere „Spätzlekriege“, da sich die ursprünglichen Bewohner*innen des Viertels über die vielen Zuzüge insbesondere aus dem Schwabenland mokierten. Zu den Konflikten, die 2013 ihren Höhepunkt erreichten, gehörten gehässige Wandkritzeleien, Wände aus Spätzle-Nudeln und Websites wie „Free Schwabylon“ – mehr dazu hier.

#tcl_block--article-text

Wie ist Gentrifizierung zu erkennen?


Das Paradebeispiel für Gentrifizierung in Deutschland ist das Berliner Viertel Prenzlauer Berg. Nach dem Mauerfall lag das Viertel größtenteils brach und war von ärmeren Menschen bewohnt. Aber einige Jahre später kamen die Kreativen sowie die „betuchten“ Familien, Investor*innen und weitere Wohnungssuchende mit mehr Kapital. Schnell erfuhr der Prenzlauer Berg eine Aufwertung und ist heute ein schickes Viertel mit angesagten Cafés, sauberen Straßen, zahlreichen Biorestaurants und edlen, teils veganen und vegetarischen Restaurants.

Auch in Berlin-Kreuzberg, Berlin-Friedrichshain und Neukölln-Nord sind ähnliche Prozesse zu beobachten. Neben der Hauptstadt haben auch große deutsche Städte wie Hamburg (Schanzenviertel, St. Pauli, Ottensen, Eimsbüttel und St. Georg), München (Glockenbachviertel, Haidhausen, Schwabing, Giesing), Köln (Ehrenfeld, Belgisches Viertel) und Frankfurt am Main (Bahnhofsviertel) Paradebeispiele für Gentrifizierung zu bieten.

In allen Fällen, auch in den internationalen Beispielen wie Notting Hill in London und SoHo in New York, zeichnet sich der Prozess durch die folgenden Elemente aus:

  • Steigende Mietpreise
  • Neue, reichere Nachbar*innen
  • Aufkauf lokaler Geschäfte durch Ketten
  • Mehr Tourismus
  • Vermehrte Polizeiaktivität
  • Neue Restaurants und Bars mit Fokus auf gesunder, internationaler Ernährung
  • Mehr Kunstgalerien und Boutiquen
#tcl_block--article-text

Was bedeutet Gentrifizierung für die Stadtplanung?

In der Stadtplanung ist die Gentrifizierung oft ein erwünschter Prozess, der teils sogar von Kommunen in Gang gesetzt wird. Indem etwa bestimmte Wohngebiete als Sanierungszonen ausgewiesen und Investitionen steuerlich begünstigt werden, lässt sich die Gentrifizierung beschleunigen. Auch politisch initiierte Großprojekte, neue Bürokomplexe, Luxuswohnungen und private Investitionen in Projekte beeinflussen die Boden- und Mietpreise in benachbarten Gebieten schnell.

Der Zuzug in ein bestimmtes Stadtgebiet führt ebenfalls oft zu Gentrifizierung, wobei es sich meist um eine Kombination verschiedener Faktoren handelt. Denn wenn bestimmte Großprojekte angekündigt werden, begünstigt dies den Zuzug neuer Bewohner*innen sowie weitere Investitionen, sodass von gleich mehreren Seiten eine Veränderung im Viertel stattfindet.

Viele Städte stehen zudem im Wettbewerb miteinander, was Investitionen angeht. Um möglichst viele interessante Großprojekte an Land zu ziehen und zugleich die eigenen Schulden zu begleichen, neigen Stadtplaner*innen dazu, bei der Flächennutzungsordnung möglichst profitable Nutzungen zu bevorzugen. Dabei kann der Bestandsschutz, sowohl in Wohn- als auch in Gewerbegebieten, zu kurz kommen.

#tcl_block--article-text

Chancen der Gentrifizierung


Der Prozess der Gentrifizierung wird häufig kritisiert, ist aber nicht ausschließlich negativ. Wenn die Stadtplanung die Revitalisierung geschickt steuert und zum Beispiel Wohngebiete mit gemischter Einkommensstruktur schafft, lässt sich die Verdrängung der ursprünglichen Bewohner*innen verhindern. Zugleich ist es möglich, Neuankömmlinge zu integrieren und die Nachbarschaft für alle zu verbessern.

Gentrifizierte Stadtteile bringen oft eine verbesserte Situation für alle Anwohner*innen, neue Berufschancen, mehr Sicherheit und sogar eine verbesserte Kreditwürdigkeit mit sich. Stadtviertel werden aufgewertet, die Wohnungen werden modernisiert und städtebauliche Mängel werden behoben. Mehr Grünflächen, verbesserte Luftqualität und besserer Zugang zu Infrastruktur gehören daher zu den Chancen der Gentrifizierung.

Insbesondere aber profitieren Wohnungseigentümer*innen und Immobilienexpert*innen sowie Investor*innen von der Gentrifizierung. Sie argumentieren, dass Städte als lebendige Organismen einem zuständigen Wandel unterliegen. Der Zuzug von Besserverdienenden bringt mehr wirtschaftliche Aktivitäten, mehr Steuergelder, neue Arbeitsplätze und verbesserte Grundstückswerte – all dies kann zu neuen Chancen führen.

#tcl_block--article-text

Risiken der Gentrifizierung


Dennoch dominiert die Kritik an der Gentrifizierung. Obwohl es einige Vorteile gibt, ist insbesondere das Risiko für langjährige Bewohner*innen, im Rahmen der Gentrifizierung plötzlich vertrieben zu werden, ein großer Kritikpunkt. Schlimmstenfalls droht ihnen sogar die Obdachlosigkeit – ganz abgesehen von den psychologischen Folgen davon, die Heimat zu verlieren. Hier geht es um große Fragen wie das Mietpreisniveau sowie die Geschwindigkeit und die soziale Gleichheit der Stadtentwicklung. Gegner*innen der Gentrifizierung setzen sich daher für Mietpreisbremsen und langsames, kontinuierliches Wachstum von Stadtteilen ein.

Kritisiert wird auch der oft rasche Bevölkerungsaustausch in gentrifizierten Stadtvierteln. So ist es denkbar, dass die Durchmischung mit alteingesessenen Personen fehlt, wodurch der Stadtteil letztendlich seine Identität verlieren könnte. Dabei vermissen die Neuankömmlinge ebenso wie andere Zugezogene „das Authentische“, obwohl sie selbst für diesen Mangel verantwortlich gemacht werden könnten.

Häufig fehlt in gentrifizierten Stadtteilen die gesunde Durchmischung der Bevölkerung, die erstrebenswert ist, um etwa Enklaven und Parallelgesellschaften zu vermeiden. Die Segregation von Teilen der Bevölkerung in – im drastischsten Fall – „Ghettos“ und „gated communities“ nimmt Städten ihre Essenz. Denn das klassische Verständnis der Stadt als Ort der Begegnung hat mit diesen Städten nicht mehr viel zu tun.

In Deutschland ist die Gentrifizierung noch nicht so drastisch wie etwa in New York City oder in Dubai. Aber es ist wichtig, der Segregation entgegenzusteuern und weiterhin öffentliche Räume und weitere Orte der Begegnung und Durchmischung zu schaffen. Im Rahmen der Bewegung „Recht auf die Stadt“ gibt es weltweit viele Initiativen gegen die Gentrifizierung und für eine bewusstere, inklusivere Stadtentwicklung, die allen Bewohner*innen das Recht gibt, in der Stadt zu leben, zu arbeiten und zu spielen.

#tcl_block--article-text

Gentrifizierung als Frage der öffentlichen Verantwortung


Die räumliche Konzentration von Armut ist ohne Frage ein Risiko und oft ein Problem. Hier könnte die Gentrifizierung ein Teil der Lösung darstellen, indem die Stadtentwicklung verantwortungsvoll und schrittweise geplant wird. Indem etwa wohlhabende Zuzügler*innen in bestimmte Gegenden eingeladen werden, lassen sich die Chancen der Gentrifizierung nutzen. Dafür muss die soziale Mischung erhalten bleiben, was politischen Willen fordert und bedeutet, dass stabilisierende Eingriffe in den Wohnungsmarkt nötig werden können.

Verbesserte Infrastruktur für alle sowie Ideen, um die soziale Distanz zwischen verschiedenen Bewohnergruppen zu überbrücken, sind ebenfalls wichtige Aspekte einer gelungenen Gentrifizierung. Dafür sind besondere Anlässe und gezielte, organisierte und institutionalisierte Anregungen nötig – ein langwieriger, komplexer Prozess.

Aber: Indem bereits bei der Schulbildung mehr Wert auf soziale Durchmischung, Nachbarschaftsmischung und Chancengleichheit gelegt wird, ist es möglich, soziale Verantwortung zu unterrichten. Dafür sind eine hohe Qualität von Schulen sowie die Gewährleistung von erschwinglichem Wohnraum in der Nähe guter Schulen nötig.

#tcl_block--article-text

Buchempfehlung: The New Urban Crisis von Richard Florida


Ob Chance oder Problem: Gentrifizierung polarisiert, ist aber in vielen Städten ein unaufhaltbarer Prozess. Die Frage ist daher, wie öffentliche Verantwortung ausgeübt werden kann, um die Gentrifizierung für alle Stadtbewohner*innen möglichst vorteilhaft zu gestalten.

Dazu eine Buchempfehlung: In „The New Urban Crisis“ (2017) erforscht der amerikanische Urbanist Richard Florida, was Gentrifizierung genau bedeutet, welche anderen Faktoren Krisen verursachen und wie diese mit Innovation und Wachstum interagieren. Das Buch ist auf den US-amerikanischen Wohnungsmarkt fokussiert, bietet aber dennoch viele interessante Denkanstöße als Antwort auf die Hypothese „Gentrifizierung ist keine Chance“.

#tcl_block--article-additional-info