Lasst uns die Gesetzgebung mutig reformieren!

Lasst uns die Gesetzgebung mutig reformieren!
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Lehrende tragen eine große Verantwortung, die kommende Planerschaft auf die großen klimabedingten Herausforderungen vorzubereiten. Dabei besteht die Chance, ohne die Befangenheit von Normierung und Baugesetzgebung innovative Wege in eine zukunftsfähige Städteplanung an unseren Universitäten vorzudenken und zu erproben. Wie jedoch überträgt man akademische Experimente in den realen beruflichen Alltag? Der Ruf nach einer neuen Gesetzgebung für die Baubranche wird immer lauter.

Martina Baum, Direktorin des Städtebau-Instituts der Uni Stuttgart und Inhaberin des Büros Studio Urbane Strategien erklärt in ihrem Gespräch für ACT NOW! ihre Vision für mehr Nachhaltigkeit im baulichen Schaffungsprozess und proklamiert eine radikale Befreiung von Vorgaben, um der Klimakrise in all ihren Facetten mit klaren Antworten und mutigen Experimenten zeitnah begegnen zu können.

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Neugestaltung des Willy-Brandt-Platzes als Klima-Platz und Mobilitätsdrehscheibe für Mannheim (D) seit 2019, Visualisierung: bauchplan ).(
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Vage Zukunftsbilder für drängende Fragen

Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind immens. Natürlich waren sie schon die letzten Jahrzehnte präsent, aber die planenden Disziplinen waren viel zu zögerlich in ihrem Beitrag und Handeln. Es geht mehr denn je darum, diese Herausforderungen aktiv, kreativ, inklusiv, räumlich und gesellschaftlich anzugehen.

In der Büropraxis interessiert mich beispielsweise der Ausschreibungstext eines Wettbewerbes nur noch bedingt. Oftmals beschreibt dieser mit blumigen Begriffen ein vages, generisches Zukunftsbild: „Lebendig urbanes Quartier“ oder „innovativer moderner Städtebau“ sind dann da zu lesen und es entstehen zumeist investorenfreundliche uniforme Stadtquartiere, die weder räumliche wie auch gesellschaftliche Antworten auf die drängenden Fragen geben.

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Mehr Spielraum für kreative Lösungsansätze

Für Veränderungen in der Planungspraxis brauchen wir allerdings Spielraum, wir brauchen die Möglichkeit zum Ausprobieren und vor allen Dingen zum Abwägen und Aushandeln. Das Gemeinwohl sollte in diesen Prozessen wieder im Mittelpunkt von Stadtplanung und Städtebau stehen, nicht singuläre oftmals rein monetäre Interessen.

Spielraum allerdings ist durch die deutsche Reglementierungswut schwer zu finden. Normen und Gesetze behindern aktive und kreative Lösungsansätze für z.B. Klimaanpassung oder Nachverdichtung. Abwägungsprozesse finden nicht mehr statt. So wird das Wärmedämmverbundsystem als ein Beitrag zur Nachhaltigkeit und Energiereduktion angepriesen, und ist doch das komplette Gegenteil davon. Eingang in die Normen hat es dennoch gefunden. Auch über Nachverdichtung kann nur schwer diskutiert werden, wenn nicht gleichzeitig die Vorgaben des Brand- und Lärmschutzes reformiert werden. Wer dies schon einmal versucht hat weiß, wie verhärtet da die Fronten sind: Abwägung und Aushandlung unmöglich.

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Bahnhofsplatz in Karlsruhe Süd (D) als Klima-Entrée und nachhaltige Visitenkarte mit ablesbaren Kreisläufen, Wettbewerbsgewinn mit diwald bauingenieure und berchtoldkrass space&options, Umsetzung seit 2019, Visualisierung: bauchplan ).(
Bahnhofsplatz in Karlsruhe Süd (D) als Klima-Entrée und nachhaltige Visitenkarte mit ablesbaren Kreisläufen, Wettbewerbsgewinn mit diwald bauingenieure und berchtoldkrass space&options, Umsetzung seit 2019, Visualisierung: bauchplan ).(
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Die Wiederentdeckung vernakulärer Strukturen

Wir bräuchten einen Befreiungsschlag: Reglementierung müsste, wo dies möglich und sinnvoll ist durch Abwägungsspielraum ersetzt werden. Dies bedeutet allerdings auch, dass ein integrierter Diskurs notwendig ist. Dabei geht es natürlich nicht darum, prekäre Lebensbedingungen zu schaffen, sondern absolut lebenswerte, attraktive, verdichtete Räume zu entwickeln! Hierzu empfehle ich, auf unser reichhaltiges Wissen als Menschheit zurückzugreifen, dass wir die letzten Jahre zugunsten von standardisiertem Bauen in Stadtbeton und generischen städtebaulichen Strukturen völlig über Bord geworfen haben. Jede Klimazone dieser Welt hatte städtebauliche Konfigurationen und baukonstruktive Bauweisen entwickelt, aus lokalen natürlichen Materialien bestehend, die auch auf absolut extreme Situationen reagieren konnten. Die Wiederentdeckung dieses Wissens und seine Reflexion und Weiterentwicklung insbesondere auch vernakulärer Strukturen könnte uns helfen den Herausforderungen lebenswerte und attraktive räumliche Strukturen gegenüberzustellen.

Wir brauchen wieder robuste Strukturen in der Landschaftsarchitektur, Architektur und im Städtebau, die spezifische räumliche, konstruktive, ästhetische und poetische Qualitäten formulieren und einen gesetzlichen Rahmen der Abwägungsprozesse zulässt!

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Text: Martina Baum